Deutsche Reichstagsakten, Reichsversammlungen 1556 – 1662 Der Reichstag zu Regensburg 1556/57 bearbeitet von Josef Leeb

Rezess von Wolmar 1546 als Verstoß gegen das freie Wahlrecht der Kapitel und Kollegien. Postulation Hg. Christophs von Mecklenburg als Koadjutor im Erzstift Riga. Anfechtung durch den Landmeister des Deutschen Ordens in Livland. Interzession der Kgg. von Polen und Dänemark sowie Hg. Albrechts von Preußen zugunsten des Koadjutors. Angriff auf das Erzstift, Inhaftierung von Ebf. und Koadjutor durch den Landmeister. Bitte um Interzession der Reichsstände: Beendigung des Konflikts, Freilassung und Restituierung von Ebf. und Koadjutor, Rücknahme des Rezesses von Wolmar.

Im RR mündlich vorgetragen am 23. 11. 1556. In der Mainzer Kanzlei schriftlich vorgelegt am 24. 11.1 Von den Reichsständen kopiert am 25. 11. Den Gesandten des Landmeisters in Livland übergeben am 1. 12.2

HHStA Wien, MEA RTA 43/II, fol. 31–36’ (Kop. Dorsv. Hd. Bagen: Lifflandt contra ertzbischofen zu Riga.) = Textvorlage.LHA Schwerin, RTA I SchwR 50 Fasz. 7, fol. 164–171’ (Konzeptkop.3 Dorsv.: A. Vortragen, so auß bevelich meines gn. fursten und hern, hertzog Johansen Albrechts zu Mecklenburgk etc., der ifflendischen [!] landtfriedtbruchigen handlung halber den Reichs stenden den 23. Novembris anno 56 geschehen etc.) = [B]. HStA München, K. blau 107/3a, unfol. (Kop. Dorsv.: Hertzog Johans Albrechts zu Meckelnburgs anbringen, den ertzbischoffen zu Riga betreffen, contra den meister zu Lieflandt. Zu Regenspurg den 23. Octobris anno 56 gemeinen stenden des Reichs mondtlichen fur- und angebracht.) = [C]. HStA Düsseldorf, JB II 2297, fol. 109–116’ (Kop. mit Randvermerken. Aufschr.: Lectum Ratisponae, 25. Novembris anno 56.). HStA Dresden, Loc. 10192/5, fol. 219–226’ (Kop.). GStA PK Berlin, I. HA Rep. 10 Nr. Y Fasz. F, fol. 13–19’ (Kop.).

/31 f./ Hg. Johann Albrecht von Mecklenburg lässt vortragen: Sie, die Reichsstände, sind in der Anzeige Kf. Joachims von Brandenburg4  über das ohnehin bekannte, landfriedbrüchige Vorgehen des Landmeisters des Deutschen Ordens in Livland gegen Ebf. Wilhelm von Riga informiert worden. Da die Gesandten des Landmeisters versuchen, den Überfall auf den Ebf. und auf [Koadjutor] Hg. Christoph von Mecklenburg, den Bruder Hg. Johann Albrechts, in ihrem Gegenbericht5  zu rechtfertigen, sieht der Hg. sich veranlasst, die Reichsstände gegen die irreführende Darstellung über den wahren Sachverhalt aufzuklären.

/31’ f./ Der damalige Landmeister des Deutschen Ordens in Livland hat 1546 den Ebf. und das Domkapitel von Riga, über das er keinerlei Rechte hat, zur Annahme eines Rezesses gezwungen, in dem sich das Kapitel verpflichten musste, künftig keine auswärtigen Ff. zu wählen6 . Dies verstößt gegen das von alters her gemäß den Privilegien geltende, freie Wahlrecht der Kapitel und Kollegien. Hingegen hat Hg. Johann Albrecht mit Empfehlungsschreiben Kg. Ferdinands I., der Kgg. von Polen und Dänemark sowie mehrerer Kff. und Ff. erreicht, dass der Ebf. und das Kapitel zu Riga seinen Bruder, Hg. Christoph, am 28. 1. 1556 als Koadjutor angenommen haben7.

/32–33/ Nachdem der Landmeister in Livland diese Wahl unter Berufung auf den unrechtmäßig erzwungenen Rezess von Wolmar anfocht8 , hat Hg. Johann Albrecht die Kff. und Ff. von Sachsen, Brandenburg, Braunschweig-Lüneburg und Pommern gebeten, eine Interzession der Kgg. von Polen und Dänemark als Konservatoren und Protektoren des Erzstifts Riga9  beim Landmeister dahingehend zu veranlassen, dass der Rezess, der allen Reichsff. den Zugang zu den Dignitäten in Livland verwehrt, zurückgenommen, die freie Wahl zugelassen und die Postulation Hg. Christophs anerkannt werde10 . Der Landmeister hat die Beantwortung der Interzession beider Kgg. verzögert, um zwischenzeitlich aufrüsten und im Reich Söldner anwerben zu können. Dabei wurde er von der Stadt Lübeck unterstützt11 . Ebf. Wilhelm wandte sich deswegen brieflich an seinen Bruder, Hg. Albrecht von Preußen, doch konnte der Landmeister die Briefe abfangen und sie als Vorwand für seine Rüstungen missbrauchen12 , obwohl er diese schon zuvor eingeleitet hatte13 . Das Vermittlungsangebot Hg. Albrechts von Preußen hat der Landmeister ebenso abgelehnt wie jenes des Kgs. von Polen, dessen Gesandter ohne Antwort zurückgeschickt wurde14 . Ein anderer Gesandter Kg. Sigismunds II. August an den Ebf. von Riga ist unterwegs von den ‚Livländern‘ ermordet worden15.

/34 f./ Vielmehr begann um Pfingsten 1556 der Angriff des Deutschen Ordens auf das Erzstift mit der Belagerung und Eroberung von Schloss Kokenhusen. Ebf. und Koadjutor wurden gefangen genommen und inhaftiert16.

Der Landfriedensbruch des Landmeisters ist allein auf die Postulation des Koadjutors zurückzuführen und kann nicht mit den abgefangenen Briefen und anderen Vorwendungen begründet werden. Dies zeigt auch der Rezess von Wolmar [1546], der dem Landmeister zur Hoheit über das Erzstift Riga und damit zur Alleinherrschaft in Livland verhelfen sollte. Dieses Ziel verfolgt der Landmeister nunmehr mit dem Krieg gegen den Ebf. Er verstößt damit gegen alle Rechte, die Reichsordnung und den Land- und Religionsfrieden von 1555.

/34’ f./ Deshalb bittet der Hg. die Reichsstände, dass sie den Landmeister schriftlich oder mittels einer Gesandtschaft auffordern, sein landfriedbrüchiges Vorgehen einzustellen, sich der Reichsordnung sowie dem Land- und Religionsfrieden gemäß zu verhalten, Ebf. und Koadjutor freizulassen und sie als gehorsame Stände des Reichs in ihren Rechten und Besitzungen zu restituieren. Seine vermeintlichen Ansprüche kann er auf ordentlichem Weg vorbringen. Lübeck und anderen Reichsständen, die den Landmeister unterstützen, möge man auftragen, dies künftig zu unterlassen und ihre in Livland dienenden Untertanen abzufordern. Da der Rezess von Wolmar gegen alle Rechte und gegen die Privilegien verstößt sowie Kff., Ff., Gff. und Hh. im Reich von der Wahl in Livland ausschließt, bittet man die Reichsstände um Fürsprache beim Kg., er möge den Rezess „ex plenitudine potestatis“ aufheben und damit die freie Wahl gewährleisten.

Schlussformel. [o. D., ohne Unterzeichnung].

Anmerkungen

1
  Kurmainz, pag. 265–267 [Nr. 31] (Referat im RR und Notiz zur späteren Vorlage in der Kanzlei).
2
  Kurmainz, pag. 325 [Nr. 37].
3
 Die Konzeptkop. beinhaltet nur zwei kleine, inhaltlich unbedeutende Korrekturen.
4
 Nr. 511.
5
 Nr. 512.
6
 Rezess vom 28. 7. 1546 (Landtag zu Wolmar), abgeschlossen unter Landmeister Hermann von Brüggenei: Die livländischen Ff. verpflichten sich, ihr Land nicht zu säkularisieren und keinen auswärtigen F. als Koadjutor zu wählen ohne die Zustimmung der übrigen livländischen Stände, also des Landtags. Vgl. Rasmussen, Krise, 18 (mit Drucknachweis; dieser auch bei Frantzen, Urkunden, Nr. 174 S. 497); Schiemann, Rußland, 284 f.; Kirchner, Rise, 36; Hartmann, Quellen, 275 f.
7
 Zu den Hintergründen des Koadjutorprojekts vgl. Anm.8 bei Nr. 512. Zur Wahl vgl. Anm.10 bei Nr. 515. Vgl. das bei Schirrmacher I, 289, erwähnte Empfehlungsschreiben Kg. Ferdinands I. vom 28. 4. 1555 (Bedingung: Eintritt Hg. Christophs in den geistlichen Stand, Annahme der katholischen Religion). Dänische Unterstützung der Koadjutur als „Konservator und Mitpatron“ des Erzstifts bei Ritterschaft, Domdechant und Kapitel zu Riga, dem Ebf. und allen anderen Ständen in Livland ( Schirrmacher I, 291 f.). Förderung durch Kg. Sigismund II. August von Polen mittels Gesandtschaften nach Riga und zum Landmeister (ebd., 294 f., 297, 300; Bergengrün, Herzog, 39–41, 45 f., 49 f.). Promotoriale mehrerer Kff. und Ff. ( Schirrmacher I, 299).
8
 Bezugnahme auf den Landtag zu Wolmar im März 1556 (vgl. Anm.11 bei Nr. 515).
9
 Vgl. Bunge, Chronicon, 117: Polen ist Protektor des Erzstifts Riga „von vndencklichen Jharen“ her. Die Berufung als Protektor erfolgte Mitte des 14. Jahrhunderts durch Ks. Karl IV. ( Kirchner, Rise, 38, 198. Vgl. auch Tiberg, Vorgeschichte, 89). Zum Patronat Dänemarks vgl. Anm. 10.
10
 Zur Einbeziehung der Reichsff.: Schirrmacher I, 302–304. Vgl. auch die Instruktion Ebf. Wilhelms von Riga für den Wolmarer Landtag (o. D., Februar 1556): Hartmann, Herzog I, Nr. 1791 S. 256 f. Vgl. die Interzessionen Kg. Sigismunds II. August von Polen vom 26. 2. 1556 an Landmeister von Galen und vom 29. 2. 1556 an den Landtag in Wolmar: Hartmann, Herzog I, Nrr. 1785, 1787, 1788 S. 248–254; Schirrmacher I, 310. Nach Dänemark ordnete Hg. Johann Albrecht von Mecklenburg selbst eine Gesandtschaft ab (1. 5. 1556), um unter anderem eine Intervention Kg. Christians III. beim Landmeister zu veranlassen. Der Kg. lehnte die Einmischung (noch) ab ( Rasmussen, Krise, 38 f.). Vgl. das spätere Förderungsschreiben Kg. Christians: Rät als Protektor des Erzstifts Riga dem Landmeister des Deutschen Ordens zum gütlichen Ausgleich und zur Annahme Hg. Christophs als Koadjutor (Kopenhagen, 10. 7. 1556: Frantzen, Urkunden, Nr. 272 S. 673 f.). Betonung der dänischen Unterstützung als ‚Konservator und Mitpatron‘ des Erzstifts bei Schirrmacher I, 291 f.
11
 Lübeck diente als wichtigster Anlauf- und Sammelort für die Truppenwerbungen des Ordens im Reich (vgl. Anm. 13) und die Verschiffung der Söldner nach Livland. Zum positiven Verhältnis Lübecks (und der Hanse) zum Ordenszweig in Livland, für den sie diplomatisch intervenierte und ihn wohl auch finanziell unterstützte, vgl. Dreyer, Beziehungen, 15–17; Rasmussen, Krise, 55 f. (mit Korrekturen an Dreyer);  Schirrmacher I, 311 f.; Kirchner, Rise, 64 f. Rezesse der Hansetage zum Hilfsgesuch Gotthard Kettlers (22. 7. 1556) sowie zur weiteren Unterstützung (18. 11. 1556): Höhlbaum, Inventar, Nr. 29* S. 418 f., Nr. 31* S. 421–427, hier 424 f. Bitte der Hanse an Kg. Christian III. von Dänemark um Interzession (20. 7. 1556): Ebd., Nr. 1244 S. 88.
12
 Bezugnahme auf die Beilagen zum Gegenbericht des Gesandten des Landmeisters [Nr. 512].
13
 Für den Orden in Livland war bereits Anfang des Jahres 1556, also lange vor den im Mai verschickten Briefen Ebf. Wilhelms und noch vor dem Landtag zu Wolmar im März (strittige Bestätigung der Koadjutorwahl), Gotthard Kettler, Komtur von Dünaburg, ins Reich gereist, um Truppen und Alliierte zu werben. Bereits bis Februar konnte er 6000 Söldner akquirieren, die über Lübeck nach Livland geschickt wurden ( Hartmann, Herzog I, Nr. 1780 S. 245 f.; Seraphim, Geschichte, 215 f.;  Schirrmacher I, 311–315).
14
  Kg. Sigismund II. August schickte im April 1556 Jan Domanowski, Bf. von Samogitien, zu Landmeister von Galen, um eine friedliche Lösung des Koadjutorkonflikts anzumahnen, seine Vermittlung anzubieten und vor den Konsequenzen einer bewaffneten Auseinandersetzung zu warnen. Da der Landmeister inzwischen die Briefe Ebf. Wilhelms an Hg. Albrecht von Preußen abgefangen hatte, ging er auf das Angebot nicht ein ( Rasmussen, Krise, 35 f., 50 f.; Bergengrün, Herzog, 62). Eine weitere polnische Vermittlungsgesandtschaft folgte Anfang Mai 1556 ( Hartmann, Herzog I, Nr. 1817 S. 281–283). Für Preußen wohl Bezugnahme auf das Schreiben Hg. Albrechts vom 9. 6. 1556 an Landmeister von Galen, in dem er ihn vor dem bewaffneten Vorgehen gegen den Ebf. warnte und den friedlichen Austrag der Differenzen anriet. Ein konkretes Vermittlungsangebot ist nicht enthalten (ebd., Nr. 1837 S. 300). Vgl. auch die Gegenaussage in Nr. 515, fol. 53’ f.
15
 Der polnische Gesandte Caspar Łącki wurde im Juni 1556 unterwegs mit seinen Dienern getötet, da er ohne Geleit des Ordens und auf ungewöhnlichen Straßen reiste ( Renner, Historien, 12 f.; Napiersky, Erzbischof, XXXVI f.;  Kirchner, Rise, 203).
16
 Nachdem der Deutsche Orden in Livland aufgrund der im Mai 1556 abgefangenen Briefe (vgl. Beilage zu Nr. 512) Ebf. Wilhelm von Riga als Landesverräter bezeichnen konnte, intensivierte er seine schon zuvor eingeleiteten Rüstungen (vgl. Hartmann, Herzog I, Nrr. 1832, 1832/1 S. 296 f.). Aufgrund eines Beschlusses des Landtags zu Wenden (28. 5.) erging das allgemeine Landesaufgebot, die Streitmacht wurde Wilhelm von Fürstenberg unterstellt. Mit dem Fehdebrief des Landmeisters und der übrigen livländischen Stände vom 16. 6. 1556 erklärten sie Ebf. Wilhelm den Krieg (ebd., Nr. 1842 S. 302 f.). Schon am 13. 6. hatten im Erzstift Riga Domkapitel und Stände dem Ebf. den Eid aufgekündigt (ebd., Nrr. 1840 f. S. 301 f.). Ebf. Wilhelm verzichtete daraufhin selbst auf das Erzbistum und blieb zusammen mit Koadjutor Christoph in Schloss Kokenhusen. Wilhelm von Fürstenberg eroberte am 19. 7. zunächst Ronneburg und anschließend weitere ebfl. Orte, ehe er am 28. 6. Kokenhusen belagerte. Koadjutor Christoph begab sich in das Lager Fürstenbergs (vgl. Anm.9 bei Nr. 512). Ebf. Wilhelm wurde am 30. 6. inhaftiert und nach Schloss Adsel verbracht, wo die harten Haftbedingungen erst nach f. Interzessionen gemildert wurden. Der Orden in Livland hatte damit einen vollständigen Sieg errungen. Vgl. die Schilderungen des Feldzugs bei  Renner, Historien, 12 f.; Bunge, Chronicon, 117–119; Seraphim, Geschichte, 217 f.; Napiersky, Erzbischof, XXXVI f.; Bergengrün, Herzog, 57–62, 66–70.