Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe. Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., XIV. Band. Der Reichstag zu Nürnberg 1543 bearbeitet von Silvia Schweinzer-Burian, mit Vorarbeiten von Friedrich Edelmayer
Von den Zielsetzungen der kursächsisch-hessischen Reichstagspolitik (Religion, Friede und Recht)1, die sich in der Supplikation der Augsburger Konfessionsverwandten vom 2. Februar 1543 (Nr. 152) ausdrückten, wurden Fragen der Religion2 (Nr. 152, Art. 14 und 15) vom König auf das Trienter Generalkonzil verwiesen (Nr. 153, Art. 2). Das Thema „Religion“ kam während des Reichstags nur mehr in Verbindung mit der Kritik der Evangelischen am Konzilsbegriff der Altgläubigen zur Sprache. Hingegen beschäftigte der Themenkomplex „Friede und Recht“ die Konfessionsparteien und den zwischen ihnen vermittelnden König und die habsburgischen Räte vom Anfang bis zum Ende der Reichsversammlung und führte schließlich auch zu deren Scheitern.
Die Verhandlungen fanden auf drei verschiedenen Ebenen statt3:
1. Schriftwechsel und mündlicher Austausch König Ferdinands und der kaiserlichen Kommissare mit Vertretern der Schmalkaldener bzw. der evangelischen Reichsstände.
2. Sonderverhandlungen von habsburgischer Seite (König Ferdinand, Nicolas de Granvelle, Dr. Johann von Naves, Pfalzgraf Friedrich) mit Gesandten der führenden schmalkaldischen Fürsten (Kursachsen, Hessen, Württemberg)4 oder der Reichsstädte (Nürnberg, Augsburg etc.)5.
3. Verhandlungen im Reichsrat zwischen den Konfessionsparteien6.
Ad 1: Bereits vor Eröffnung des Reichstags, nämlich am 25. Januar 1543, verlangten die Schmalkaldener in einer an König Ferdinand und die kaiserlichen Kommissare gerichteten Eingabe (Nr. 151) die Einstellung der Prozesse am Reichskammergericht. Ihre Forderung nach unparteiischer Rechtsprechung sowie Visitation und Reform des Gerichts auf Basis der Regensburger Deklaration (RTA JR Bd. XI, Nr. 949) wurde in ihrer von der Gesamtheit der Augsburger Konfessionsverwandten befürworteten ersten Supplikation (Nr. 152) mit Verweis auf die Zusicherungen vorangegangener Reichstage näher ausgeführt und mit dem Verlangen nach einem beständigen Frieden verknüpft. Als Druckmittel zur Durchsetzung ihrer Ziele diente den Protestanten die Junktimierung ihrer Forderungen mit der Türkenhilfe, welche vor einer befriedigenden Erledigung der Probleme von Friede und Recht nicht in Angriff genommen werden sollte. In seiner am 16. Februar 1543 erfolgten schriftlichen Antwort (Nr. 155) orientierte sich der König im Wesentlichen an der in der Zwischenzeit eingeholten Stellungnahme der Altgläubigen (Nr. 154), die keinerlei Entgegenkommen gegenüber den Andersgläubigen an den Tag legten. In Hinblick auf den Frieden wollte er nicht über die Friedstandsregelungen der vergangenen Reichstage hinausgehen; der braunschweigische Feldzug wurde den Schmalkaldenern als Landfriedensbruch zur Last gelegt, die Reform oder Neubesetzung des Gerichts im protestantischen Sinn abgelehnt; sein Entgegenkommen bestand lediglich in einer Bestätigung der in Speyer zugesagten Suspension der Kammergerichtsprozesse (RTA JR Bd. XII, Nr. 285, § 130).
Die mangelnde Kompromissbereitschaft von königlich/kaiserlicher und altkirchlicher Seite förderte den Zusammenhalt im Lager der Augsburger Konfessionsverwandten, zu denen die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes7 als führende Teilgruppe zählten, welche die politische Taktik am Reichstag vorgab und für den Zusammenhalt der Konfessionspartei sorgte. Auf Grund unterschiedlicher Partikularinteressen war es für einige protestantische Reichsstände (z.B. Herzog Moritz von Sachsen, die Markgrafen von Brandenburg, die Reichsstädte Nürnberg, Regensburg und Augsburg) mitunter nicht leicht bzw. unmöglich, sich auf eine gemeinsame Linie zu verständigen8. Umso wichtiger waren die Appelle der Bundesobersten, „für einen Mann zu stehen“ und sich ohne Zugeständnisse in den Fragen von Friede und Recht nicht für die Leistung der Türkenhilfe vergattern zu lassen9. Als die Protestanten in ihrer Antwort vom 26. Februar 1543 (Nr. 157) die Argumente der Supplikation gegenüber König Ferdinand in etwas veränderter Form wiederholten, fügten sie die Bitte hinzu, einen von beiden Konfessionsparteien gleichermaßen beschickten Ausschuss zur Beratung der strittigen Fragen einzusetzen10. Das Ersuchen nach einem Ausschuss wurde ihnen in der königlichen Antwort vom 3. März (Nr. 158, Art. 3) als zu zeitraubend abgeschlagen; mit der Verlängerung des Friedens verwies Ferdinand auf das baldige Kommen des Kaisers ins Reich; die Absetzung des Kammerrichters und der Beisitzer lehnte der König kategorisch ab; die Regensburger Deklaration des Kaisers erwähnte er mit keinem Wort. Da den Protestanten damit nicht gedient war, verhärteten sich die Fronten zusehends11. Dazu kam eine immer näher rückende Bedrohung durch die Türken, wie die Kundschafterberichte (Nr. 135) den Reichsständen deutlich vor Augen führten. Unter diesen Umständen kündigte der König an, mit den im Reichsrat erscheinenden Ständen die Verhandlungen über die Türkenhilfe beginnen zu wollen (Nr. 158, Art. 8). Es folgte ein weiterer ergebnisloser Schriftwechsel in Form von Triplik und Quadruplik (Nr. 159–160), wobei Ferdinand anbot, die Bestimmungen zu Friede und Recht nicht nur auf Basis der bisherigen Reichsabschiede, sondern auch gemäß der kaiserlichen Deklaration von 1541 (RTA JR Bd. XI, Nr. 949) zu deuten. Das königliche Angebot rief die von den Bundeshauptleuten gefürchtete Spaltung unter den Schmalkaldenern nicht hervor, wie sich aus dem hessischen Votenprotokoll vom 9. März 1543 (Nr. 161) ergibt. Nicht nur die Schmalkaldischen Bündner, sondern auch die meisten anderen Reichsstände der Augsburger Konfession blieben bei ihrer Ablehnung der königlichen Vorschläge (Nr. 162, Anm. 1). Nur die Gesandten Herzog Moritz’ von Sachsen, des Markgrafen Georg von Brandenburg, des Markgrafen Hans von Brandenburg-Küstrin und der Städte Nürnberg und Regensburg stimmten der Forderung nach völliger Neubesetzung des Kammergerichts nicht zu und wollten sich mit der Visitation auf Grund der Deklaration begnügen12.
Der König gab den Protestanten darauf am 10. März in einer mündlichen Antwort zu verstehen, dass er keine weiteren Zugeständnisse machen könne; er lehnte die Absetzung des Kammergerichtspersonals ohne vorherige Anhörung ab (Nr. 163, Art. 3), verwies abermals auf die baldige Ankunft des Kaisers im Reich und forderte die Evangelischen auf, gemeinsam mit den anderen Ständen die Beratungen über die Türkenhilfe zu beginnen (Nr. 163, Art. 4). In ihrer kurzen Erwiderung beharrten die Augsburger Konfessionsverwandten auf ihren mehrmals vorgebrachten Forderungen, ohne deren Erfüllung sie – den Befehlen ihrer Auftraggeber entsprechend – zu keinen Verhandlungen über die Türkenhilfe befugt wären. Die daraus entstehende Blockade der Verhandlungen beendete zunächst die Verständigungsversuche zwischen den Konfessionsparteien, die auf anderer Ebene weitergeführt wurden (siehe unten ad 2 und ad 3).
Erst am 2. April nahm der König die direkte Kommunikation mit den Neugläubigen wieder auf, nachdem die Sonderverhandlungen der kaiserlichen Räte und die gemeinsamen Beratungen der Konfessionsparteien im Reichsrat gescheitert waren und die Altgläubigen alleine über die Türkenhilfe verhandelten. Sie hatten Ende März in ihrem ersten Gutachten zur Türkenhilfe (Nr. 92) den König ersucht, nochmals die Vermittlerrolle zu übernehmen und die Evangelischen zur Teilnahme an den Beratungen zu überreden. Da Ferdinand den Protestanten außer der raschen Festsetzung eines Visitationstermins und der Schlichtung eventueller Streitigkeiten durch den Kaiser nichts substanziell Neues anzubieten hatte (Nr. 170), forderten diese die explizite Erwähnung der Regensburger Deklaration (RTA JR Bd. XI, Nr. 949) im Reichsabschied, um auf dieser Basis zu einer Übereinkunft über Friede und Recht zu kommen. Die Regelung der braunschweigischen Angelegenheit sollte erst nach der Ankunft des Kaisers stattfinden und die Kammergerichtsprozesse sollten bis zum Ende der Visitation suspendiert werden (Nr. 171). Jener Teil der Schmalkaldener, die unbeirrbar an der Neubesetzung des Kammergerichts festhielten, veranlasste nach Übergabe des Aktenstücks offenbar die Nachreichung eines „Zettels“, auf welchem die Absetzung der von ihnen nicht akzeptierten Kammergerichtspersonen verlangt wurde13. All diese Forderungen wurden von den Altkirchlichen in ihrer Stellungnahme (Nr. 172) dezidiert abgelehnt: Sie gestanden lediglich eine Suspension der Kammergerichtsprozesse für vier Monate zu. Auf eine vom König angebotene Nebenversicherung zum Reichsabschied (Nr. 173) wollten sich die Augsburger Konfessionsverwandten erst recht nicht einlassen, da die Erfahrungen in Regensburg 1541 und in Speyer 1542 gezeigt hatten, dass eine solche Deklaration ohne Anerkennung durch alle Reichsstände wertlos war (Nr. 174).
Trotz der verfahrenen Situation gab der König seine Vermittlungsversuche nicht auf. Da die Protestanten auf der Aufnahme der kaiserlichen Deklaration von 1541 in den Reichsabschied bestanden, ließ Ferdinand den altgläubigen Ständen durch Naves am 14. April 1543 ein Gutachten für die Formulierung der Artikel zu Friede und Recht im Reichsabschied übergeben (Nr. 175), in welchem das Bemühen spürbar wird, die Protestanten nicht völlig vor den Kopf zu stoßen. In dem Entwurf wird die Deklaration zwar nicht erwähnt, sie konnte aber – so die Befürchtungen der Altgläubigen – unter dem unscharfen Begriff „reichsabschied und handlungen“ von den Protestanten darunter verstanden werden. Nach Beratungen der Altgläubigen über den königlichen Entwurf und ihrer anschließenden kritischen Stellungnahme (Nr. 176–177) kam es zu einigen Ergänzungen und Korrekturen der umstrittenen Artikel durch den König und Naves (Nr. 178), was am 18. April schließlich zur Einigung der Altgläubigen mit König Ferdinand über die Artikel zu Friede und Recht führte (Nr. 179). Diese Artikel übergab der König gemeinsam mit den Beschlüssen über die Türkenhilfe (Nr. 94) den Protestanten und forderte sie auf, sich angesichts der Notlage des Reichs an der Türkenhilfe zu beteiligen (Nr. 180). Dabei wies er darauf hin, dass durch seine Vermittlungsbemühungen die Altgläubigen einer Regelung von Friede und Recht zugestimmt hätten, die „aller erbarkeyt und pilligkeyt nit ungemeß“ sei; außerdem bot er abermals eine königliche Nebenversicherung zum Reichsabschied an. Doch allen Überredungskünsten Ferdinands zum Trotz fiel das Gutachten des Ausschusses der Augsburger Konfessionsverwandten zu den vom König übergebenen Artikel (Nr. 94, Nr. 179) vernichtend aus. Die evangelischen Reichsstände folgten dem Ausschussgutachten (Nr. 181) und lehnten sowohl die Türkenhilfe als auch die Bestimmungen zu Friede und Recht ab (Nr. 182–183).
Am 22. April machte Ferdinand einen letzten Versuch, mit den Protestanten zu einer Einigung zu gelangen. Er schilderte ihnen nochmals seine Bemühungen, die Differenzen zwischen den Parteien beizulegen, die sich vor allem um die Anerkennung der kaiserlichen Deklaration von Regensburg drehten, und forderte sie auf, die Beschlüsse der anderen Reichsstände mitzutragen (Nr. 184). Doch an ein Einlenken war nicht mehr zu denken. Die Augsburger Konfessionsverwandten lehnten den königlichen Vorschlag noch am selben Tag ab, worauf Ferdinand das Scheitern seiner Bemühungen eingestehen, „mit gedult annemen und di sachen diser zeit bei dem jetzigen ersuchen beruhen“ ließ. Ein gemeinsamer Beschluss aller Reichsstände zur Türkenhilfe war nicht zu erreichen, und dem König blieb nur die Hoffnung auf die christliche Hilfsbereitschaft der protestantischen Reichsfürsten in Form eine partikularen Hilfszusage in der Not (Nr. 185).
Ad 2: Den Reigen der Sonderverhandlungen mit den Evangelischen eröffnete der kaiserliche Generalbevollmächtigte Nicolas de Granvelle bereits am 3. Februar 1543. Während der Monate Februar/März fanden mehrere Unterredungen der hessischen Räte mit Granvelle bzw. dem kaiserlichen Sekretär und Begleiter Granvelles in Nürnberg, Gerhard Veltwyk, statt, die um eventuelle Angriffspläne Herzog Heinrichs von Braunschweig und die in Wolfenbüttel gefundene Aktenbeute, ferner um den Konflikt zwischen Königin Maria und Herzog Wilhelm von Jülich und nicht zuletzt auch um die Problematik von Friede und Recht kreisten. Dabei machte Granvelle keinerlei Zugeständnisse, vor allem was die öffentliche Anerkennung der kaiserlichen Deklaration betraf, sondern verschob die Lösung aller Probleme auf das Kommen des Kaisers ins Reich14. In der Unterredung vom 2. März wurden die Einschüchterungsversuche des kaiserlichen Ministers massiver. Er beschuldigte die hessischen Räte, den anderen Schmalkaldenern mit schlechtem Beispiel voranzugehen und es an Kompromissbereitschaft und gutem Willen fehlen zu lassen, denn ihr Herr, Landgraf Philipp von Hessen, hätte die Bündner in der Hand, wenn er nur wolle (Nr. 342).
Parallel zu den Gesprächen Granvelles mit den hessischen Räten liefen die Bemühungen des Königs, die Reichsstädte vom kompromisslosen Festhalten am schmalkaldischen Forderungskatalog abzubringen. Er berief am 3. März die Losunger der Stadt Nürnberg15 zu sich, um sie zum Einlenken zu bewegen, und ersuchte sie, auch die Gesandten von Straßburg, Augsburg und Ulm entsprechend zu informieren. Manche Städtegesandte waren durch die königlichen Vorhaltungen verunsichert, da sie ohnedies nicht überzeugt waren, dass alle Forderungen der Schmalkaldischen Bundeshauptleute (z.B. nach Auflösung und Neubesetzung des Reichskammergerichts) dem Interesse der Städte entsprächen16.
Nach einem weiteren Monat erfolgloser Verhandlungen äußerte der König in einer Unterredung mit dem Vertreter Augsburgs, Dr. Claudius Pius Peutinger, am 2. April deutlich seine Missbilligung über die Haltung der Städte, aber Peutinger blieb trotz der Vorwürfe des Königs bei der von den Schmalkaldenern vorgegebenen Taktik der Verweigerung der Türkenhilfe (Nr. 396), wobei er Rückendeckung vom Rat der Stadt Augsburg erhielt (Nr. 397)17.
Eine neue Reihe von Sonderverhandlungen wurde von kaiserlich/königlicher Seite nach dem Scheitern der Beratungen zwischen dem König und den Protestanten vom 10. bis zum 12. März aufgenommen. Diesmal wurden nicht nur die hessischen (Nr. 189), sondern auch die kursächsischen (Nr. 188) und die württembergischen Gesandten (Nr. 360) in langen Gesprächen von Ferdinand und von Granvelle zu beeinflussen gesucht, um sie von der Forderung nach Neubesetzung des Reichskammergerichts und nach Erwähnung der kaiserlichen Deklaration im Reichsabschied abzubringen18. Das Hauptziel dieser neuerlichen Initiative war es, die Verhandlungen über die Türkenhilfe in Gang zu bringen.
Die Reichsratssitzung am 12. März zeigte jedoch, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Der Aufforderung der drei kaiserlichen Kommissare, die Trennung der Stände zu beenden und gemeinsam im Reichsrat über den Vollzug der Hilfe zu beraten, wurde von den Schmalkaldenern nicht Folge geleistet, während die Katholiken ihre Verhandlungsbereitschaft erklärten (Nr. 188, Nr. 190–191). Naves gab den hessischen Räten nach der Reichsratssitzung zu verstehen, dass sie nicht auf der Bildung eines gemeinsamen Ausschusses der Stände zu Friede und Recht bestehen sollten, da der König ihnen ohnehin schon zugesagt habe, die Visitation des Kammergerichts auf Basis der kaiserlichen Deklaration durchführen zu lassen19.
Die weiterhin fortbestehende Blockade der Verhandlungen über die Türkenhilfe wollte Ferdinand durchbrechen, indem er die altgläubigen Reichsstände am 15. März ersuchte, seine gesamten bisher mit den Protestanten geführten Verhandlungen, unter denen sich auch sein Vorschlag vom 9. März zur Visitation auf Basis der kaiserlichen Deklaration befand (Nr. 160, Art. 3), urkundlich zu billigen. Damit wollte er das Misstrauen der Evangelischen gegenüber den Altgläubigen zerstreuen, die zu Recht verdächtigt wurden, die Zusicherungen des Königs nicht zu akzeptieren. Außerdem schlug Ferdinand den Altkirchlichen vor, gemeinsam mit ihm und den kaiserlichen Kommissaren ein Schreiben an das Reichskammergericht zu adressieren wegen der Suspension der Prozesse in allen weltlichen und Religionsangelegenheiten. Die katholische Aktionspartei war aber nicht gewillt, die königlichen Vorschläge zu akzeptieren und weigerte sich, die königlichen Verhandlungsergebnisse betr. die Gültigkeit der kaiserlichen Deklaration von 1541 anzuerkennen20.
Das kurze Intermezzo von gemeinsamen Verhandlungen der Alt- und Neugläubigen im Reichsrat zwischen 20. und 29. März 1543 (siehe unten ad 3) wurde von weiteren Sonderverhandlungen der hessischen Räte mit Granvelle (Nr. 346–347) und Naves (Nr. 349) begleitet. Um die Schmalkaldener für die Leistung der Türkenhilfe zu gewinnen, verstieg sich der Generalorator sogar zu der Aussage, dass der König gemeinsam mit ihm und den kaiserlichen Kommissaren bereit wäre, die Absetzung der den Protestanten missliebigen Beisitzer des Reichskammergerichts, eine Regelung des Landfriedens und die Reform des Gerichts auf Basis der kaiserlichen Deklaration von 1541 zuzusichern, allerdings unter der Bedingung der einstweiligen Geheimhaltung, um Schwierigkeiten mit den Altgläubigen zu vermeiden (Nr. 346, Anm. 1). Dass es sich bei diesem Versprechen lediglich um einen taktischen Schachzug des gewandten Politikers Granvelle handelte, sahen die hessischen Räte spätestens, als sie Granvelle um eine schriftliche Beurkundung der geheimen Deklaration baten und dieser unwirsch ablehnte und lediglich eine mündliche eidesstattliche Zusicherung einräumte (Nr. 347). Mit einer solchen mündlichen Versicherung wollte sich der Landgraf, der sich des Widerstands der katholischen Aktionspartei, vor allem Dr. Ecks, durchaus bewusst war21, nicht zufrieden geben. In einer Weisung an seine Räte vom 30. März (Nr. 350) ließ er sie wissen, dass die Deklaration nicht nur von königlich/kaiserlicher Seite, sondern auf jeden Fall auch von den Kurfürsten Köln, Pfalz und Brandenburg, wenn möglich auch von Trier, sowie von den Reichsfürsten Herzog Moritz von Sachsen, Pfalzgraf Friedrich und von einigen geistlichen Fürsten (Münster und Augsburg) bestätigt werden sollte.
In den Verhandlungen zwischen dem hessischen Rat Dr. Johann Fischer, gen. Walter, und dem kaiserlichen Vizekanzler am 29. März 154322 äußerte sich Naves ausgesprochen optimistisch in Hinblick auf die Erfolgschancen der protestantischen Forderungen: Pfalz und Köln würden der Aufnahme der kaiserlichen Deklaration von 1541 in den Reichsabschied zustimmen, von den anderen Reichsständen, selbst von Mainz, sei keine Anfechtung zu erwarten, vor allem der Kaiser stehe auf Seiten der Protestanten und habe sich durch die Regensburger Deklaration viele Feinde im altgläubigen Lager zugezogen. Die von Naves tendenziös geschilderte Situation veranlasste Dr. Fischer – vorausgesetzt eine befriedigende Lösung von Friede und Recht –, eine einfache Türkenhilfe des Landgrafen in Form einer Geldsumme in Aussicht zu stellen; außerdem würde Philipp die anderen Bündner zur Hilfeleistung motivieren (Nr. 349). Die im April stattfindenden Verhandlungen zwischen dem König und den Protestanten (siehe oben ad 1) verliefen dann aber ganz anders als von den kompromissbereiten Vertretern aller Parteien erhofft.
Ad 3: Da weder der Schriftwechsel zwischen König und Protestanten noch die Sonderverhandlungen mit einzelnen Reichsfürsten und Reichsstädten über Friede und Recht bis Mitte März 1543 zu einem positiven Ergebnis geführt hatten, waren die Chancen auf gemeinsame Beratungen aller Reichsstände über die Türkenhilfe im Reichsrat äußerst gering. Erst das während des ganzen Reichstags präsente Thema des jülichschen Kriegs brachte Bewegung in die festgefahrenen Fronten. Die Räte Herzog Wilhelms von Jülich ersuchten sowohl die gesamte Reichsversammlung als auch die Schmalkaldener im Besonderen am 17. bzw. 18. März um Beistand und Vermittlung in diesem Konflikt (Nr. 208). Nach kontroversen Beratungen23 entschied der Ausschuss der Augsburger Konfessionsverwandten am 19. März, dass ohne Beilegung des Jülicher Konflikts, zu der sie beitragen wollten, keine Türkenhilfe möglich sei. Die Evangelischen sollten daher an der vom Reichserbmarschall für 20. März 1543 einberufenen Sitzung des Reichsrates24 in ihrer jeweiligen Kurie teilnehmen, ihre altbekannte Position zur Priorität von Friede und Recht vertreten und gleichzeitig die Bereitschaft kundtun, sich in der Jülicher Angelegenheit zu engagieren (Nr. 209). Die protestantischen Reichsstände setzten diesen Beschluss des Ausschusses am 20. März in die Tat um und erschienen – überraschend für alle anderen – im Reichsrat, wo die Altgläubigen über die Türkenhilfe zu verhandeln beginnen wollten25. Wegen der protestantischen Präsenz ergaben die Umfragen in allen drei Kurien (Kurfürsten-, Fürsten- und Städterat) durch das Votum mehrerer „gutherziger Stände“26 einen Mehrheitsbeschluss27 im Sinne der Evangelischen, d.h. für die Priorität der Behandlung von Friede und Recht vor der Türkenhilfe. Die Jülicher Frage sollte als Bestandteil der Friedensfrage vor der Türkenhilfe erörtert werden, wobei die Protestanten gemeinsam mit den anderen Reichsständen beim König und den kaiserlichen Räten am 22. März um Vermittlung in diesem Konflikt ansuchen wollten (Nr. 212)28. König Ferdinand unterstrich erneut die Dringlichkeit einer gemeinsamen Hilfe aller Reichsstände gegen die Türken, da bei Verlust Ungarns an die Türken Österreich, Bayern und Schwaben höchst gefährdet seien29. Trotz dieser Appelle blieb es beim Mehrheitsbeschluss aller Kurien, den jülich-klevischen Konflikt prioritär vor der Türkenhilfe zu behandeln, die während andauernder Kriegshandlungen ohnedies nicht geleistet werden könne. Neben der klevischen Vermittlung sollte auch über Friede und Recht im Allgemeinen beraten werden30.
Diese Entwicklung konterkarierte die Absichten der katholischen Aktionspartei, die nun alles daransetzte, den gegen ihren Willen durchgesetzten Mehrheitsbeschluss zu durchkreuzen. Bischof Valentin von Tetleben berichtete von einer Versammlung der altgläubigen Vertreter der Kurfürsten und Fürsten am 23. März, in welcher über den am Vortag gefassten Mehrheitsbeschluss der Kurfürsten beraten wurde. Der Vertreter Österreichs im Fürstenrat, Hans Gaudenz von Madruzzo, erklärte, dass im Fürstenrat der Beschluss zur sofortigen Fortsetzung der Türkenhilfeverhandlungen gefallen sei31, was nicht der Wahrheit entsprach und einem simplen Ignorieren der Mehrheitsinteressen zur Durchsetzung der eigenen Ziele gleichkam32.
Der Kampf mit unlauteren Mitteln wurde von Dr. Eck am 24. März fortgesetzt, indem er die altgläubigen Stände des Fürstenrates ohne Wissen der Protestanten einberief. In gesonderten Beratungen der Altgläubigen kam es zu einem Beschluss in der Frage der Türkenhilfe, demgemäß dem König nach einem Vergleich der Anschläge für dieses Jahr die geforderte Hilfe bewilligt werden sollte33. In den Fragen von Friede und Recht blieb die Haltung der Altgläubigen intransigent wie seit Anfang des Reichstags; von einer vorherigen Erledigung der von den Protestanten geforderten Punkte und einer Befolgung der Mehrheitsbeschlüsse im Kurfürsten- und Fürstenrat war keine Rede. Das Vorgehen Ecks kam einer Überrumpelung gleich, die in der für den 26. März einberufenen Reichsratssitzung jedoch geschickt verschleiert wurde, damit die Schuld für die gescheiterten Verhandlungen nicht den Altgläubigen angelastet werden konnte. In einem mündlichen Vortrag im Namen der altgläubigen Reichsstände (Nr. 166) anerkannte der Mainzer Erzkanzler formal den Mehrheitsbeschluss von Kurfürsten- und Fürstenrat für die Priorität von Friede und Recht und übermittelte den Schmalkaldenern infolgedessen all jene altgläubigen Vorschläge zu Friede und Recht, die für sie bekanntlich unannehmbar waren34. Da mit einer Akzeptanz der Vorschläge durch die Evangelischen von altgläubiger Seite offenbar gar nicht gerechnet wurde, beendete Dr. Jakob Jonas seinen Vortrag mit der Ankündigung, dass die Reichsstände in einem solchen Fall die Beratungen über die Hilfe ohne die Protestanten fortsetzen würden.
Da auch die Konfessionsverwandten die Schuld des Scheiterns der gemeinsamen Beratungen nicht auf sich sitzen lassen wollten, berieten sie im Ausschuss über eine Reaktion auf die Rede des Mainzer Kanzlers (Nr. 167)35. Das Karussell altbekannter Argumente mit der kaiserlichen Deklaration von 1541 als größtem Stolperstein begann sich wieder zu drehen. Die Sitzung des Reichsrates vom 29. März stellte mit den Wechselreden zwischen den Evangelischen und dem Mainzer Kanzler (Nr. 168–169) die letzten gemeinsamen Verhandlungen der Konfessionsparteien dar und endete mit der Ankündigung der Altgläubigen, die Beratungen über die Türkenhilfe am nächsten Tag alleine fortzusetzen, was von der Gegenpartei zur Kenntnis genommen wurde.
Somit wurde auf keiner der drei geschilderten Kommunikationsebenen ein erfolgreicher Kompromiss erzielt, weder in den Verhandlungen König Ferdinands und der kaiserlichen Kommissare mit den Protestanten noch in den Sonderverhandlungen der habsburgischen Protagonisten mit einzelnen Reichsständen noch in den gemeinsamen Beratungen der Konfessionsparteien im Reichsrat. Die Verbindlichkeit von Mehrheitsentscheidungen wurde nicht nur von den Protestanten unter dem Aspekt der freien religiösen Gewissensentscheidung in Frage gestellt (seit 1529), sie wurde im Fall des Reichstags von 1543 auch von den Altgläubigen aus pragmatischen, machtpolitischen Gründen nicht anerkannt. Außerdem verringerte die wachsende Polarisierung zwischen Alt- und Neugläubigen die Erfolgsaussichten der Vermittlungstätigkeit des Königs und der kaiserlichen Räte und beeinträchtigte die Funktionsfähigkeit der Reichsordnung36.